"Jeder einzelne soll in seiner Zelle oder in ihrer Nähe bleiben, Tag und Nacht das Wort des Herrn meditierend und im Gebet wachend, es sei denn, er ist mit anderen, wohlbegründeten Tätigkeiten beschäftigt."
(Kapitel 7 der Karmel-Regel)
Die Bibel ist Gottes Wort, das immer kraftvoll und wirksam ist, immer neu. Die Lectio Divina ist eine traditionelle Methode, um die Hl. Schrift zu lesen, so daß Gottes Wort unsere Herzen durchdringe und wir in eine innige Beziehung zu Gott hinein wachsen. Es ist eine sehr natürliche Gebetsweise und wurde von den ersten Mönchen entdeckt und gelangte so zu den ersten Karmel-Eremiten
Vor einigen Jahrhunderten wurde es mehr oder weniger abgelehnt, die Bibel in der eigenen Landessprache zu lesen, und das führte dazu, daß die Praxis der Lectio Divina abnahm. Dankenswerterweise hat der Orden der Karmeliter, zusammen mit der ganzen Kirche, in den letzten Jahren die Wichtigkeit der Lectio Divina als eine vorzügliche Methode von neuem entdeckt, um in der Beziehung mit Jesus Christus zu wachsen. Durch die Praxis der Lectio Divina geben wir, als Einzelperson oder als Gemeinschaft, Gottes Wort Raum, uns umzugestalten, so daß wir anfangen, unsere Welt sozusagen mit Gottes Augen zu sehen und das, was wir sehen, mit dem Herzen Gottes zu lieben.
„Lectio Divina" ist ein lateinischer Fachausdruck und bedeutet „göttliches Lesen", wobei wir stufenweise unsere eigene Agenda loslassen und uns dem öffnen, was Gott uns sagen möchte. Im 12. Jahrhundert beschrieb ein Kartäusermönch, namens Guido, die Stufen, die er für die Praxis der Lectio Divina als wesentlich erachtete. Es gibt mehrere Methoden, um sich in der Lectio Divina zu üben, entweder individuell oder in Gruppen, aber Guidos Beschreibung bleibt immer grundlegend.
Er sagte, daß die erste Stufe die lectio (Lesung) ist, wobei wir das Wort Gottes langsam und aufmerksam lesen, so daß es in uns eindringt. Jede Schriftstelle kann für diese Methode verwendet werden, jedoch sollte der Abschnitt nicht zu lang sein.
Die zweite Stufe ist die meditatio (Besinnung), wobei wir über den Text, den wir gewählt haben, nachdenken und ihn „wiederkäuen", so daß wir von ihm das mitnehmen, was Gott uns geben möchte.
Die dritte Stufe ist die oratio (Gebet), wobei wir unser eigenes Denken beiseite lassen und unsere Herzen ganz einfach zu Gott sprechen lassen. Die Antwort ist von unserem Nachdenken über Gottes Wort erfüllt.
Die letzte Stufe der Lectio Divina ist die contemplatio (Betrachtung), wobei wir nicht nur unsere eigenen Ideen, Pläne und Beobachtungen loslassen, sondern auch unsere heiligen Worte und Gedanken. Wir ruhen ganz einfach in Gottes Wort. Wir lauschen auf dem tiefsten Grund unseres Wesens Gott, der mit ruhig leiser Stimme in uns spricht. Während wir lauschen, werden wir Stufe um Stufe von innen heraus umgestaltet. Diese Umgestaltung wird ganz klar eine tiefe Auswirkung auf unser Gebet haben. Wir sollen das, was wir in Gottes Wort lesen, in unser Leben von jedem Tag mit hinein nehmen.
Diese Stufen der Lectio Divina sind keine festgelegten Gesetze, wie man vorzugehen hat, sondern bloß Richtlinien dazu, wie das Gebet sich für gewöhnlich entwickelt. Seine natürliche Bewegung geht in Richtung größerer Einfachheit, mit immer weniger Reden und mehr Lauschen. Die Worte der Schrift beginnen sich stufenweise aufzulösen, und das Wort offenbart sich vor den Augen unseres Herzens. Wie viel Zeit jeder einzelnen Stufe gegeben werden sollte, hängt sehr viel davon ab, ob es individuell oder in einer Gruppe geübt wird. Wenn die Lectio Divina als Gruppengebet gebraucht wird, ist deutlich mehr Struktur nötig, als beim individuellen Gebrauch. Bei einem Gruppengebet hängt vieles vom Gruppentyp ab. Die Lectio Divina kann eine Diskussion darüber mit sich bringen, welche Schlußfolgerungen aus Gottes Wort für unser tägliches Leben zu ziehen wären, aber es kann nicht darauf beschränkt werden. Die Bewegung des Gebetes geht in Richtung Stillschweigen. Wenn die Gruppe sich in der Stille wohl fühlt, könnte mehr Zeit darauf verwendet werden, im Wort zu ruhen.
Die Praxis der Lectio Divina als Methode, um die Hl. Schrift zu beten, war für viele Jahrhunderte eine fruchtbare Quelle, um in der Beziehung zu Christus zu wachsen und ist in unseren Tagen von vielen Einzelpersonen und Gruppen wieder entdeckt worden. Das Wort Gottes ist kraftvoll und wirksam und wird jeden von uns umgestalten, wenn wir uns öffnen, um das zu empfangen, was Gott uns geben möchte.