(Röm 11,18)
ZUR URSPRÜNGLICHEN INSPIRATION DES KARMEL
P. Bruno Secondin O.Carm. Päpstliche Universität Gregoriana, Rom
(Übersetzung: Sr. Elisabeth OCD, Karmel Weimar)
Ich habe mich bemüht, diesen Text als Grundlage für einen, wie ich hoffe, fruchtbaren und geschwisterlichen Dialog mit der jungen Generation im Karmel zu erarbeiten. Ich bin den Organisatoren dieses Treffens sehr dankbar: Ihre Einladung ehrt mich nicht nur, sondern sie fordert mich auch heraus, Impulse zur Hoffnung und Gemeinschaft, zum prophetischen Geist und zur kreativen Treue zu geben. Auf dem Weg zur Jahrtausendwende träumt unsere Kirche nicht nur von Neuem, sondern sie blickt auch auf ihre Geschichte zurück, und zwar um schwelende Wunden zu heilen, um die eigene Zerbrechlichkeit zu erkennen, um sich von Fehlern zu reinigen, die sie erneut begehen könnte. Auch wir dürfen und müssen im Kleinen und im Hinblick auf unsere eigene Geschichte im Geist der Versöhnung und der neuen Hoffnung, der Geschwisterlichkeit und gegenseitigen Annahme diesen Weg der Kirche mitgehen. Das ist der Hintergrund, auf dem ich dies sagen möchte. Ich bin hier als Euer Mitbruder, um mit Euch zu teilen, getragen von einer Hoffnung, die sich von der Erinnerung an die "ursprüngliche Intention" nährt.
1. "ALS SICH DIE WOLKE HOB..."
Die Ursprünge des Karmelordens waren immer schon von einer ehrfürchtigen, liebevollen Atmosphäre umgeben: Man blickte voller Nostalgie auf sie und beschrieb sie in poetischer Sprache. Zugleich lagen sie im Nebel fragmentarischer, unsicherer Berichterstattung, die mit legendären Erzählungen ausgeschmückt wurde. Es existieren nur sehr wenige Dokumente (im Vergleich zu anderen Instituten), und bei deren Interpretation hat es ganz verschiedene hermeneutische Ansätze gegeben. Dabei lag die Betonung das eine Mal auf dem eremitischen Geist, das andere Mal auf der Aszese, dann wieder auf der Kontemplation oder der Beziehung zu Elija und der Muttergottes, usw. Jede neue Generation las in der Erinnerung an die Anfänge nicht nur die Tatsachen, sondern deutete sie zugleich für die eigene Zeit und suchte in ihnen sogar eine maßgebende Bestätigung für die eigenen neuen Entscheidungen.
Erst unser Jahrhundert hat die Entstehungszeit des Ordens wirklich in einem objektiven, geschichtlich fundierten Licht sehen gelernt. Es wurden neue Dokumente entdeckt, es gab kritische Ausgaben von in Vergessenheit geratenen Dokumenten, und man rekonstruierte den kirchlichen und kulturellen Kontext der erhaltenen Quellen. Es gab neue, weniger fragmentarische Deutungsansätze, man versuchte es mit neuen Hermeneutiken (Deutungsmodellen), entwickelte aus neuen Kontexten heraus eine neue Sensibilität bei der Interpretation.
Zu der objektiven, gut dokumentierten und daher möglichst breiten, wenn nicht umfassenden Geschichtskenntnis kam außerdem die Suche nach der intentionalen Dynamik der Texte hinzu. Besonders wichtig war die Wiederentdeckung der Tatsache, daß die Geschichte, die da in Fragmenten bis heute weitererzählt wird, eine lebendige Sinneinheit bildet. So wurde uns diese "inspiratio primigenia" (ursprüngliche Inspiration, Geist des Ursprungs - Perfectae Caritatis 2) um so kostbarer, und es gilt, sie in gelassener Treue zu bewahren und mit charismatischer Kreativität im Einklang mit der Kirche und mit der Geschichte zu leben (Siehe MR 11).
Von dieser Arbeit waren ganze Generationen unseres Jahrhunderts beansprucht, und sie ist noch nicht zu Ende, denn die "neuen Leser" werden nicht nur immer wieder neue Fachkompetenzen, sondern auch neue Sinnfragen haben. Und vor allem werden neue Kontexte und neue "Zeichen der Zeit" es erforderlich machen, daß das "Charisma" als evangeliumsgemäßer, kirchlicher Lebensentwurf in neuen Formen gelebt wird.
Wir dürfen sagen, daß diese Fachleute, Mitbrüder und Mitschwestern unseres Jahrhunderts, "den Stein weggewälzt" haben (vgl. Mk 16,3), der uns an der unmittelbaren Begegnung mit der Wahrheit hinderte. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, daß wir heute besser verstehen, was am Anfang war, daß wir den leuchtenden Kern des Gründercharismas sehen und mit neuer Begeisterung daran glauben können.
2. "DIE ORTE (ANKNÜPFUNGSPUNKTE) DER ERINNERUNG"
In jeder Geschichtswissenschaft liegt eine starke Betonung auf den sogenannten "Orten (Anknüpfungspunkten) der Erinnerung". Dabei handelt es sich um die Orte und Kontexte, Fakten, Sprachen und Erfahrungen, die unzertrennlich mit einer bestimmten Wirklichkeit verbunden sind und sie folglich in Erinnerung rufen und konkret machen. Es reicht, diese Dinge zu nennen, und schon wird die Erinnerung an das "Ganze" geweckt. Zum Beispiel: Wenn man sagt "der Tempel", wird die Erinnerung an Jerusalem geweckt; sagt man "die Pyramiden", denkt man an Ägypten und seine Kultur; sagt man "die Bastille", erinnert man sich an die französische Revolution; heißt es "die Blauen" (italienische Fußballnationalmannschaft), denkt man an Italien; und sagt man "das goldene Zeitalter", denkt man an Spanien in seiner größten Blütezeit.
Wir Karmeliten haben viele solche "Anknüpfungspunkte", die wie ein link im Internet eine viel größere Wirklichkeit in Erinnerung rufen. Das ist zum Beispiel der Fall mit dem Berg Karmel, jenem kleinen mittelhohen Gebirgszug, dessen Ausläufer sich oberhalb von Haifa befinden, mit dem Vorgebirge, das heute "Stella maris" genannt wird. In dieser Region wurden wir geboren, von daher kommt auch unser Name (Wir bezeichnen uns tatsächlich als "Karmeliten"). Wenn man "Karmel" sagt, kommen einem gleich Assoziationen an die biblische Geschichte, in der die Schönheit des Karmel besungen wird, und an die Geschicke der Propheten Elija und Elischa.
Wir dürfen aber ergänzen, daß das Wort "Karmel" auch, wenn wir an die weitere Umgebung denken, die Erinnerung an den Weg dorthin weckt, zum Beispiel an das Mittelmeer, zu dem hin der Karmel abfällt und dessen üppige Vegetation man dort bewundert. Als unsere ersten "Väter" den Karmel erreichten, kamen sie vom Hafen von Akko (Saint Jean d’Accre) her; folglich hatten sie den ganzen länglichen Gebirgszug vor Augen, und als sie in den Hafen von Akko einbogen, fuhren sie aus nächster Nähe um seinen höchsten Punkt herum, nämlich um die Gebirgsnase, die plötzlich zum Meer hin abfällt, statt sozusagen gleichmäßig auszulaufen.
Näherte man sich von Europa her über das Mittelmeer dem Karmel, so konnte man damals unter den vielen Schluchten des Gebirges auch das Wadi ‘ain-es-Siah sehen, das kleine Tal, in dem sich die erste Gruppe niederließ. Heute ist die Sicht auf dieses Tal durch die Gebäude verschandelt, die man auf dem Rundgipfel bemerkt. Damals dürfte es aber ein herrlicher Ort gewesen sein, wie heute noch die beiden reichlich fließenden Quellen und die hohen Bäume beweisen. Unsere ersten Vorfahren haben dieses Tal nicht entdeckt: Es hatte dort bereits Niederlassungen von byzantinischen Mönchen gegeben. Das haben auch die jüngsten Ausgrabungen bestätigt, die mehrere Schichten byzantinischer Präsenz freigelegt haben (die ersten etwa aus dem 5./6. Jh.).
Folglich galt diese verborgene Schlucht damals schon als eine geeignete Umgebung für das Mönchsleben, für die Einsamkeit, die Kontemplation, die Buße. Sie war von steil aufragenden Bergwänden geschützt und von einem Wadi, das sich die Wasser der Quelle gegraben hatten, zum Tal ausgehöhlt, am Horizont war ein Stückchen Blau vom Mittelmeer zu sehen. Die Existenz vor Ort von kleineren und größeren Höhlen erleichterte es ferner den Aszeten, sich in Gruppen anzusiedeln; ganz sicher waren sie es, die die größte Höhle "Elischa-Höhle" und die Hauptquelle "Elija-Quelle" nannten. Abgesehen von der beredten Sprache der topographischen Bezeichnungen hatte man ganz offensichtlich die Intention, das Andenken an die beiden so mit dem Karmel verbundenen Propheten lebendig zu erhalten, indem man das eigene Leben am Beispiel der großen Propheten orientierte.
Die Verknüpfung des Mönchslebens mit den Propheten Elija und Elischa ist in den Vätertexten über das Ordensleben allgemein gut bezeugt. Es ist nicht sicher, ob sie an diesem Ort entdeckt wurde, doch konnte diese Verknüpfung hier charakteristische Züge annehmen, die noch inspirierender wirkten, weil sie sozusagen eine absolute Verbindung herstellten. Und wir verfügen über einen außerordentlichen Beleg dafür, der sich spezifisch auf unsere eigene Geschichte bezieht, nämlich das Zeugnis des Bischofs von Akko (1216-1228) und Autors der Historia orientalis sive hierosolymitana, Jacques de Vitry. Dieser beschreibt die neue Blüte der Mönchsniederlassungen und den Wiederaufbau der alten Kirche gegen Ende des vorhergehenden (d. h. des 12.) Jahrhunderts und sagt dabei unter anderem Folgendes:
"... Andere lebten nach dem Beispiel des heiligen Einsiedlerpropheten Elija als Einsiedler auf dem Berg Karmel, der in der Nähe der Stadt Porphyria (Haifa) aufragt, neben der Elija-Quelle, unweit des Klosters der seligen Jungfrau Margareta. Sie lebten dort in Einsamkeit, jeder für sich, in bienenkorb-ähnlichen Höhlen, in denen sie wie die Bienen den göttlichen Honig geistlicher Wonne bereiteten... Dieser Karmelberg, auf dem Elija lebte, liegt nahe am Meer, vier Meilen von Akko entfernt."
3. "DEM HERRN IN SEINER HEIMAT DIENEN": Der Kontext der Kreuzzüge
Ergänzend zu unserer ersten Suche nach "Anknüpfungspunkten der Erinnerung" dürfen wir nicht vergessen, daß wir uns im Heiligen Land befinden, und zwar zur Zeit der Kreuzzüge. Folglich befinden wir uns in einer Zeit, die von besonderer Einsatzfreude geprägt war, sowohl was den militärischen Einsatz zur Sicherung christlicher Präsenz an den biblischen Orten als auch was die zahlreichen Seereisen von Europa zum Nahen Osten betrifft, die nicht nur militärische Verstärkung brachten, sondern auch Pilger und Waren für die neuen Absatzgebiete des Handels. Es ist eine von Kriegen geschüttelte, unsichere, von Pilgern, Händlern und Soldaten durchkreuzte Gegend. Unter den Christen, die im Heiligen Land lebten, gab es nur wenige, die dort geboren waren: Fast alle waren lateinischen, europäischen Ursprungs, Auswanderer aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sicher waren alle auf der Suche nach neuem Lebenssinn und mußten unter immer unsicherer werdenden Lebensbedingungen leben, womöglich außerdem mit wachsendem Heimweh nach der europäischen Heimat, in der mehr Sicherheit und Friede herrschte.
Wir dürfen sagen, daß wir unter solchen Wandersleuten und aus ihnen geboren wurden. Es waren Entwurzelte, die zwar fasziniert waren vom Land des Herrn, deren Gegenwart und Zukunft aber von Unsicherheit geprägt war. Ziel eines jeden Kreuzzuges und einer jeden Pilgerfahrt war Jerusalem. Weil man es de facto nicht betreten konnte (wie das in der Entstehungszeit der Regel, Anfang des 13. Jh., der Fall war), wurde es zu einem Traumziel, es begann die Suche nach alternativen symbolischen Reisen. Vor allem wird die tatsächlich erlebte Unsicherheit im geistlichen Sinn als Vorläufigkeit und Verheißung eines Endziels umgedeutet, das immer weniger materiell und immer symbolischer und mehr mit ideellen Zielen verknüpft ist.
Das geistliche Vokabular dieses Umfeldes wird von einigen Schlüsselbegriffen beherrscht, etwa obsequium (Gefolgschaft), servitium (Dienst), fidelitas (Treue), itineratio (Reise), peregrinatio (Pilgerfahrt), Dominus (Herr), convenire (zusammenkommen), in poenitentia (zur Buße), conversari (einen Lebenswandel haben), usw. Dadurch wurde das Dasein durch eine neue, inspirierende Symbolik bereichert und verwandelt. So spricht man zum Beispiel von einer Reise zum Jerusalem der Endzeit, der Mutter aller Lebenden: "Jeder ist dort geboren" (Ps 87,5). Es war also eine Spiritualität, die auf der Suche war nach einem neuen Mutterschoß, in dem das Leben neu geboren wird, nach einem neuen Exodus zum Berg Zion, dessen Leuchte auf immer das Lamm Gottes sein wird, ohne daß es in der Stadt noch einen Tempel gibt (Vgl. Offb). Das Jerusalem, in das man eintreten will, ist das "neue Jerusalem", das innerlicher und apokalyptischer ist, zu dem man Tag für Tag in geschwisterlicher Gemeinschaft wie von weit her unterwegs ist, eines, das zärtlich geliebt und mit Brautsymbolik befrachtet ist, wie es in der Offenbarung des Johannes besungen wird.
Schauen wir nun auf das Europa dieser Zeit, das heißt am Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts, so entdecken wir, daß dort überall ein Streben nach der Radikalität des Evangeliums gärt; es sind Gruppen von Laien, Männern und Frauen, die in Armut und Losschälung leben, sich der Wanderpredigt widmen, den großen Pomp des kirchlichen Lebens verabscheuen und davon träumen, die ganze Christenheit zu der ursprünglichen Kraft der ersten Jerusalemer Gemeinde zurückzuführen. Diese Leute scheuen vor großen Gebäuden zurück, sie gründen Klausen in einsamen Gegenden, üben die Geschwisterlichkeit auf der horizontalen Ebene, sind flexibel und kreativ, leben einfach und halten sich an die wesentlichen Werte. Wie nachher, etwa ab 1238, deutlich wird, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, stammten die ersten "Karmeliten" aus Zypern, Sizilien, der Provence und England. Folglich brachten sie jene neue Sensibilität mit, sie hatten sie in sich aufgenommen und sich zu eigen gemacht. Das beweist die Regel.
4. DIE REGEL: der charismatische Lebensentwurf der Anfänge
Heute wissen wir nahezu alles über den Autor der ursprünglichen Fassung der Regel (der sogenannten vitae formula). Albert von Jerusalem (+ 1214) war eine bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit, er war der Vertrauensmann von Papst Innozenz III. und hat noch drei weitere Regeltexte für neue Gruppen (insbesondere für die Humiliaten) verfaßt. Über die Adressaten unserer "vitae formula" wissen wir jedoch fast nichts: Alles, was wir wissen, können wir dem Text selbst entnehmen. Die späteren Dokumente sind geschichtlich nicht sehr zuverlässig; sie sind eine Mischung von Legenden, mündlichen Überlieferungen und Phantasiegebilden. Mehr noch, die "vitae formula" von Albert ist verloren gegangen (Von ihr sind uns nur unzuverlässige Abschriften erhalten); wir haben nur die 1247 von Papst Innozenz IV in Zusammenarbeit mit zwei dominikanischen Bibelspezialisten "überarbeitete, verbesserte und ergänzte" Fassung.
Der Text war also einem Entstehungsprozeß unterworfen. Wir können in ihm bis heute mehrere Schichten unterscheiden, die aus verschiedenen Kontexten stammen: eine vor-albertinische Schicht, ein albertinische, eine aus der Zeit der ersten europäischen Niederlassungen und schließlich die Schicht der offiziellen Regelanpassung Innozenz IV. Der "normative" Regeltext ist der innozentische, sei es, weil das der einzige "mit päpstlicher Approbation" (die sogenannte "regula bullata") ist, sei es, weil er die Frucht des reifen Entwicklungsstadiums der Gruppe ist, die nunmehr im europäischen Kontext integriert ist und sich, ohne auf ihre vorhergehende Identität zu verzichten, nunmehr offiziell für die Identität einer evangelisch-apostolischen Brüdergemeinschaft entschieden hat, wie sie charakteristisch für die neuen Orden der "fratres" ist. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß dieser Aspekt der Regel als "Entstehungs- und Reifungsprozeß" zu begreifen ist, erübrigt sich die Diskussion über die "ursprüngliche Regel". Was wir leben müssen, ist "der Lebensentwurf der Regel", wie er in ihrer reifen, approbierten Fassung (1247) zum Ausdruck kommt. Von dem Augenblick an hört die "Textfassung" der Regel auf - sie wird nicht weiter geändert und ist auch nicht mehr zu ändern -, und es beginnt ihre Interpretation im Leben und in den Kommentaren.
Von den "ersten Karmeliten" wissen wir nur, was uns die Regel selbst über sie zu verstehen gibt. Daher sind besondere hermeneutische Methoden notwendig, um die Physiognomie der Adressaten kennenzulernen und ihre wahren Absichten zu erahnen. Sie bildet eine "Magna Charta" von recht geringem Umfang (nur etwa 1070 Wörter) mit stark biblischen Zügen (etwa 170 ausdrückliche Bibelzitate oder indirekte Anspielungen), die sich auf das Wesentliche konzentriert, in den wichtigsten Punkten sehr viel Spielraum und Flexibilität ermöglicht und je nach Bedarf und Sensibilität für vielfältige Formen der Verwirklichung offen ist. Als Lebensnorm im strengen Sinn könnte sie allein niemandem genügen, weil einige wichtige Themen fehlen (zum Beispiel der Ausbildungsweg der Kandidaten). Gelegentlich haben wir uns aber auf ihren "Buchstaben" versteift und einen strengen Gesetzestext aus ihr gemacht, eine Art "Dienstvorschrift für die Vereinsmitglieder".
Heute nehmen wir besser wahr, daß es statt dessen notwendig wäre, nach ihrer Intention zu fragen, also weniger aszetisch oder juristisch heranzugehen. Sie gleicht eher einem "Pilgerführer", eben deshalb ist sie so flexibel und an dem orientiert, was möglich ist; sie steckt das Ziel ab und signalisiert die mit der Wegstrecke verbundenen Gefahren, sie konzentriert sich auf die lebenswichtigen Werte und respektiert die Gewissensfreiheit und die Sensibilität des einzelnen. In einem von rigorosem Fanatismus, Krieg und Drohgebärden im Namen Gottes sowie von immer gigantischere Ausmaße annehmenden, alles kontrollierenden kirchlichen Machtstrukturen geprägten Kontext verurteilt die Regel niemanden und benutzt eine inklusive, alle einbeziehende, rücksichtsvolle Sprache. Sie ruft zu hochherziger Treue auf, ohne deswegen die Vorschriften "zum Evangelium zu machen", und weist immer wieder daraufhin, daß die Verantwortung loyal zu teilen und Rücksicht auf die jeweilige Person und deren je eigene Bedürfnisse zu nehmen sei.
5. "JUXTA PROPOSITUM VESTRUM": Die großen Werte der Regel
Schauen wir jetzt, welche großen Werte uns die Regel nahelegt, welchen charismatischen Lebensentwurf sie uns übermittelt.
a) Gefolgschaft Christi: Das Wichtigste, worauf uns die Regel an erster Stelle hinweist, ist die zentrale Stellung der Gefolgschaft Christi; das lesen wir schon im Vorwort. Doch ist dies nicht als Sondermerkmal und Charakteristikum eben dieser Gruppe zu verstehen, sondern vielmehr als Kriterium, das für alle gilt, die an Christus glauben. Dieses Kriterium wird als Frucht jahrhundertealter Weisheit dargestellt - multifarie multisque modis sancti Patres instituerunt -, die eben auch von den "fratres heremitae de monte Carmeli" aufgegriffen und geteilt werden soll. Mit anderen Worten, das Ordensspezifische, das nachher zur Sprache kommen wird, darf nicht von dem abweichen, was die grundlegende, unverzichtbare Aufgabe aller ist, nämlich von der treuen, hochherzigen Nachfolge Christi. Mehr noch, alles, was danach kommt, ist nicht mehr als eine konkrete Anwendung dieser allgemeinen Norm; man soll es im Leben beobachten, um auf diese Weise das allgemeine Grundprinzip zu verwirklichen.
Allerdings kommt die "Christozentrik" im ganzen Text immer wieder zum Tragen, sie ist wie ein roter Faden, der dem Ganzen Einheit verleiht: in der "Betrachtung des Gesetzes des Herrn", im Gebet zum gemeinsamen "Vater", in der täglichen Eucharistiefeier, in der Fastenordnung (von Kreuzerhöhung bis Ostern), im geistlichen Kampf, der zum "pie vivere in Christo" (gottgefälligen Leben in Christus) führt, in der Beobachtung des Schweigens als eines weisen Umgangs mit dem Wort, in den gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Prior und den Brüdern, und schließlich in der Erwartung des in der Endzeit "wiederkehrenden Herrn". Wir dürfen sagen, daß sich der ganze Text der Regel sozusagen um drei Höhepunkte oder Bedeutungshorizonte rankt: Nachfolge (Vorwort), Gegenwart (Kapelle) und Erwartung (Nachwort). Alles Übrige begünstigt diesen dreifachen Horizont und flößt ihm Leben ein.
b) Der Primat des Wortes: Ich gehöre zu den vielen, die voller Bewunderung vor der so dichten biblischen Sprache der Regel stehen. Insbesondere in dem Abschnitt, den wir als die "geistliche Ordnung" bezeichnen (geistlicher Kampf, Arbeit, Schweigen), besteht der Text aus einer einzigen Kette von Bibelzitaten, wohl auch einer Art geistlichen Schriftlesung. Aber auch der ganze übrige Text ist wie vom Licht des Wortes Gottes durchstrahlt; alle Beispiele, die ihm zugrunde liegen, sind eindeutig biblisch: die Urgemeinde, der Völkerapostel Paulus, Christus als der Diener. Die Vertrautheit mit dem Wort Gottes ist offensichtlich, die Schriftzitate kommen spontan, so als wäre es die natürliche Sprache gewesen.
Wir könnten sagen, daß ein "Karmelit" nicht jemand ist, der aus der Bibel zitieren kann, sondern vielmehr ein Mensch, der in der Bibel wie an einem vertrauten Ort zu Hause ist und so sehr von der Lebensweisheit der Bibel, die in ihm wohnt, durchtränkt ist, daß er spontan mit Bildern, Begriffen und Beispielen aus der Bibel spricht. Sie ist seine Syntax, seine Lehrmeisterin des Lebens und seine "Quelle" der Weisheit. Die Weisungen "Tag und Nacht im Gesetz des Herrn zu betrachten" (Kap. 6) und "Das Wort Gottes wohne überströmend in eurem Munde und in eurem Herzen" (Kap. 14) werden offensichtlich im Text selbst verwirklicht. Dieser ist sozusagen vom Wort Gottes selbst verwandelt, in ihm kommt tatsächlich zum Ausdruck, daß die Einladung Alberts auf Wahrheit beruht. Auf diesem Hintergrund müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit auf einige unserer Kategorien lenken: Nach der Regel sind Schweigen, Einsamkeit, Aszese kein Selbstzweck, keine Werte in sich, sondern Vorbedingungen, damit das Wort Gottes Frucht tragen kann, Kontexte, dank derer das Wort in unserem Herzen wohnt und als Weisheit und Glaubwürdigkeit in uns heranreift.
Wir dürfen sagen, daß der "Karmelit" in der Regel als ein Mensch beschrieben wird, der ganz vom Wort Gottes in Beschlag genommen ist, der auf es hört, es betrachtet, es verkündet und feiert, darüber nachdenkt, danach lebt, es erforscht und sich bei allem, was er vollbringt, von ihm führen läßt. Das gilt so sehr, daß wir - wenn wir uns jetzt den Schluß ansehen, in dem erneut die Rede vom Prior und den Brüdern, nämlich von ihrer gegenseitigen Beziehung ist -, entdecken, daß diese sie selber sind, jeder seiner Aufgabe gemäß, wenn sie das Wort Gottes verwirklichen, wenn sie sich treu an das Wort Gottes halten (Kap. 17-18). Mit anderen Worten, der Lebensentwurf der Regel wird zuinnerst verwirklicht, wenn im Prior und in den Brüdern die Wahrheit des Wortes Gottes aufleuchtet, wenn sie selbst vom Wort Gottes verwandelt werden, das sie überdenken und in die Praxis umsetzen. Der Prior wird, wie der Herr sagt, der "Diener" sein (Kap. 17), und die Brüder akzeptieren ihn als "vom Herrn selbst über sie gesetzt" (Kap. 18).
c) Die Eucharistiefeier als Mitte: Der Höhepunkt des biblischen Wortes Gottes, sagen wir seine höchste, lebendigste Wahrheit ist das Pascha, die Selbsthingabe des Sohnes Gottes. Alles, was im Wort Gottes verheißen und angekündigt wird, gipfelt im Ostergeheimnis. Ostern wirft das klarste Licht auf das Wort Gottes selbst, und von Ostern her kommt die Dynamik, um nach dem Wort Gottes zu leben. Das ist heutige Theologie. Aber es ist auch die Theologie der Regel: Wenn wir ihren Aufbau genau betrachten, sehen wir, daß es darin eine aufsteigende Bewegung auf Ostern hin und danach eine absteigende gibt. Die aufsteigende Bewegung umfaßt den Abschnitt von der Betrachtung im Gesetz des Herrn (Kap. 6) über das Wachen im Gebet (Kap. 6) bis zum Bemühen um Gütergemeinschaft (Kap. 9). Daran schließt sich als Höhepunkt die tägliche Eucharistiefeier an (Kap. 10), in der die Fülle dessen offenbart wird, was betend und meditierend, im Psalmengesang und in der Gütergemeinschaft gesucht wird. Aus der Eucharistiefeier ergeben sich jedoch praktische Konsequenzen, an erster Stelle die Fähigkeit zur Versöhnung und zur Festigung der Treue zur Gemeinschaft (Kap. 11), dann auch eine Aszese, die Maß nimmt an der österlichen Wegstrecke (Kap. 12), schließlich die "predicatio itinerans" (Wanderpredigt), die das Wort Gottes auf den Straßen dieser Welt verbreitet (Kap. 13).
Als Beleg für die Tatsache, daß die Eucharistiefeier die dynamische Mitte des Lebensentwurfs ist, gibt es viele Hinweise. Die Kapelle ist das einzige Gebäude, das man erst errichten muß, und zwar zentral und leicht erreichbar. In diesem Zentrum müssen sie "jeden Tag zusammenkommen", also gibt es ein Kommen und Gehen von der Einsamkeit in die Gemeinschaft, von der persönlichen Gottsuche zum Austausch miteinander, was unweigerlich seine Spuren hinterläßt. Es handelt sich um eine Glaubwürdigkeit, die sich angesichts des Geheimnisses erweist, und zwar durch einen Lebensentwurf, in dem es sich inkarniert und deutlich wird. Aus der Namengebung der Kapelle - Unserer Lieben Frau - ergibt sich der Name der Gruppe: "Brüder Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel". Diese Mitte ist wie ein fruchtbarer, bergender und nährender Mutterschoß, der die Brüder, die in ihm zusammenkommen, zu einer neuen Identität gebiert. Deshalb darf die Eucharistiefeier im Karmel nach der Regel nicht bloß eine von vielen geistlichen Übungen sein, sie darf nicht schlampig, eilig, devotionalistisch oder individualistisch gefeiert werden. Sie ist der Höhepunkt des persönlichen geistlichen Lebens, die Weihe des Bemühens, dem Herrn in Treue zu dienen, sie muß selbst das Musterbeispiel für die Treue zum propositum, das Modell für die Aszese und selbst für die Verkündigung sein.
d) Die Vorrangsstellung der Bruderschaft (geschwisterlichen Gemeinschaft): Der vierte Aspekt, der deutlich in der Regel zum Ausdruck kommt, ist die Vorrangsstellung der Bruderschaft (geschwisterlichen Gemeinschaft). Der ganze Entwurf der Regel hat nicht die isoliert für sich stehende Treue des einzelnen, sondern an erster Stelle die Vorrangsstellung der Gruppe als einer geschwisterlichen Gemeinschaft im Blick. Tatsächlich stellen wir fest, daß an den wichtigsten Stellen jeweils der Begriff frater/fratres auftaucht; die Brüder werden in wichtige Entscheidungen einbezogen, man ist also offen für die Tradition und für die neue Sensibilität. Es ist eine "Bruderschaft", die ältere und jüngere Generationen in sich vereint.
Wie in der Überschrift der approbierten Regel gesagt wird, handelte es sich um eine Bruderschaft von Eremiten: "priori et fratribus heremitis". Das bedeutet aber nicht, daß sie einem individualistischen Lebensstil gehuldigt hätten. Es war eine echte, aus ganz unterschiedlichen Mitgliedern zusammengesetzte Bruderschaft, wie die häufigen Anspielungen auf Bedürfnisse, Alter, Krankheit, unterschiedliche Meinungen, auf die jeweilige Situation und die bequeme Erreichbarkeit zeigen, keine Bruderschaft, die in Uniformität erstickte, sondern eine, die dazu berufen war, im Dialog und in Entscheidungsprozessen immer glaubwürdiger zu werden, und zwar im Zusammenleben in aller Verschiedenheit.
Ein Karmel, der aus lauter für sich lebenden, fundamentalistisch eingestellten Aszeten bestünde, die streng auf Uniformität achten, sich unbeugsam an die Vorschriften halten und fanatisch ihrer selbstgewählten Aszese frönen würden, wäre folglich nicht das, was die Regel vorzeichnet und entwirft. Sie hat große Achtung vor dem reifen, nicht fanatischen Gewissen des einzelnen und erinnert ständig an die Verschiedenheit der Bedürfnisse und Situationen, im Vertrauen, daß die einzelnen schon in aller Gelassenheit im Wesentlichen treu sind, ohne deswegen mit Vorhaltungen und Strafen zu kommen (als einzige unter den Ordensregeln!). In einem von strenger, fanatischer Aszese, wachsender kirchlicher Kontrolle und Zentralisierung der Macht und der Gerichtsbarkeit geprägten Kontext war dies von noch größerer Bedeutung. Die Regel enthält einen alternativen Entwurf, wie Kirche sein kann: geschwisterlich und glaubwürdig, als Schülerin des Wortes zum Tempel des Lammes unterwegs, betend und büßend, gastfreundlich und arbeitsam, loyal in ihren Entscheidungsprozessen und bei Überprüfungen, verzeihend und dienend, ohne jedes Moralisieren und jeden Fanatismus, weder im Hinblick auf die Tradition noch im Hinblick auf das Neue.
e) Die geistliche Ordnung: In der Karmelspiritualität hat man großes Gewicht auf die Kapitel über den geistlichen Kampf, die Arbeit und das Schweigen gelegt (Kap. 14-16), sogar auf die Gefahr hin, daß sie dadurch in ein falsches Licht kamen. Diese drei Kapitel, die wir als die "geistliche Ordnung" bezeichnen, sind auf die geschwisterliche Gemeinschaft in Christus hingeordnet. Man muß sie tatsächlich auf dem Hintergrund des ersten Satzes verstehen: "Qui pie volunt vivere in Christo" ("die gottgefällig in Christus leben wollen" - Kap. 14). Im Laufe von acht Jahrhunderten hat die Karmeltradition viele weitere charakteristische Eigenschaften der "geistlichen Ordnung" herausgestellt; ich für mich glaube aber, das die wesentliche Bedeutung dieses Auftaktes sich auch heute noch als analogatum princeps (Ausgangspunkt der Argumentation) aufdrängt. Beim geistlichen Kampf, der als Paraphrase des paulinischen Textes (Eph 6) aufgebaut ist, geht es um nichts anderes als um die Treue zur Wiedergeburt in der Taufe. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche aszetischen Wege, sondern darum, das ganze Leben im Hinblick auf die volle "Gleichgestaltung mit Christus" zu gestalten (Man achte auf den Ausdruck "vivere in Christo", der bei Paulus eine sehr dichte Bedeutung hat). Das Ganze wird von den großen theologalen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe beherrscht und von der "cogitatio sancta" (von heiligen Gedanken) und vom "Wort Gottes" genährt (Kap. 14).
Auch die Handarbeit wird nicht als eine praktische Form der Aszese, sondern in ihrer apostolischen Dimension und als brüderliche Solidarität dargestellt, und daher als "heiliger und guter Weg", das heißt als Weg zur Vollkommenheit, zur Reife, zur gänzlichen Treue (Kap. 15). Schließlich ist das Schweigen (der Regel) etwas ganz anderes als unser "Stillschweigen", als Abwesenheit von Worten und Lärm. Es ist die "Schule der Gerechtigkeit" (cultus justitiae silentium, Kap. 16), das heißt der Weg, auf dem man so sprechen lernt, daß richtige Beziehungen entstehen, auf dem man Worte sprechen lernt, die der Gerechtigkeit und Gemeinschaft, der Wahrheit und Auferbauung dienen. Die Tatsache, daß sich der Text über das Schweigen ganz und gar an die Sprache der Bibel anlehnt, zeigt, daß es wirklich um eine Schulung in der biblischen Weisheit geht und nicht um eine Übung im Verstummen oder einen individualistischen Rückzug.
f) Aktiv oder kontemplativ? Zu den Konstanten, die in unserer karmelitanischen Geschichte am deutlichsten ins Auge springen, gehört der ständige Konflikt zwischen Aktion und Kontemplation, Einsamkeit und Gemeinschaft, Gebet und Apostolat. Die Regel steht über solchen Streitfragen, sie bewegt sich außerhalb der Polarisierungen und Fanatismen der Geschichte. Sie besteht zugleich aus einigen typisch eremitischen (Einsamkeit, Kampf gegen das Böse, Buße, Meditation, Einzelzelle), einigen streng zönobitischen (collegium im juristischen Sinn, Refektorium, gemeinsame Eucharistiefeier, gemeinsames Psalmengebet, häufiger Dialog, Gütergemeinschaft) und einigen weiteren apostolischen Elementen (Wanderpredigt, Gastfreundschaft, Beispiel des Völkerapostels Paulus, Handarbeit). Dabei macht sie nicht den Eindruck, daß sie eine Position über die andere stellen möchte, vielmehr scheint sie durch ihre vielen "Ausnahmen" dazu einzuladen, daß man immer wieder ein neues Gleichgewicht, eine neue Synthese sucht. Was sie im Sinn hat, ist die immer größere "Verwandlung" der Existenz: In allem, was diese Existenz ausmacht und sie betrifft, soll der Glanz des Wortes Gottes, die zentrale Stellung Christi, die Dynamik der Erwartung, die gegenseitige Annahme in der Verschiedenheit, die Verbundenheit mit der Tradition wie auch mit den neuen Erfahrungen aufleuchten.
Abschließend dürfen wir sagen, daß - alles in allem - das Profil eines "Karmeliten" erscheint, dessen größte Sorge es nicht ist, sakrale Pflichten zu erfüllen und Riten zu absolvieren; er ist kein von der Erfüllung aszetischer Vorschriften Besessener, kein Vorkämpfer absonderlicher Bußübungen, sondern ein Mensch, der in Treue seinen Weg geht und hochherzig seinem Herrn dient, der sich vom Wort des Lebens formen und zur Glaubwürdigkeit in der freiwilligen Beobachtung eines gemeinsamen Lebensentwurfs ("propositum") führen läßt. Er ist ein Mensch, der meditiert und wacht, mit anderen teilt und feiert, arbeitet und Ausschau hält, allem Fanatismus abhold, nüchtern lebend, einer, der die Wege der Treue zu unterscheiden vermag und annimmt, was ihm der Tisch des Gastgebers bietet, der immer wieder aufs Neue aus seiner Isolierung herauskommt, um den Brüdern zu begegnen.
Solche von der Gnade verwandelten Menschen, einfach, frei, geschwisterlich, auf dem Weg bleibend, losgeschält, wachsam, weise und transparent, brauchen wir heute ganz besonders!
5. "PROPHETIA CRESCIT CUM LEGENTE" (die Prophetie wächst mit dem Leser): die Präsenz des Propheten Elija
Es ist unbestreitbar, daß die ursprüngliche Identität zwei charakteristische Merkmale, nämlich das prophetische Element des Elija und das marianische aufweist. In der Regel sind diese beiden Elemente höchstens implizit vorhanden, nämlich in der "Quelle" (die nach alten Zeugnissen als "Elija-Quelle" bekannt war) und im Patronat der Kapelle, die der Muttergottes geweiht werden sollte. Laßt uns nun für jedes der beiden Elemente einige charakteristische Merkmale aufzeigen und dabei das eine oder andere hervorheben. Zunächst zum prophetischen Element.
Wie wir schon gesagt haben, war der Prophet Elija bereits vor unserer Geburt präsent und hat nachher unsere Gründung geprägt. Auf dem Berg Karmel ganz allgemein und insbesondere in jenem Wadi gab es jahrhundertealte Spuren des Andenkens an Elija; unmöglich, davon nicht beeinflußt, mitbedingt, geprägt zu werden. Jacques de Vitry hat uns darauf aufmerksam gemacht: Die ersten Karmeliten zogen sich gerade dorthin zurück, weil sie von dieser "Erinnerung" angezogen wurden und seine Kontemplation und Einsamkeit "nachahmen" wollten. Doch hob die jahrhundertealte Tradition (eine echte Haggadah) auch die aktive Rolle des Elija hervor, nämlich seinen unerwarteten, bedrohlichen, mutigen, entschlossenen Auftritt. An einem solchen Ort wäre es absurd, anzunehmen, daß die Erinnerung an den Propheten Elija ihnen nicht wichtig gewesen wäre. Die Tatsache, daß dies in der Regel nicht ausdrücklich klargestellt wird, läßt sich leicht erklären: Seine Gegenwart war selbstverständlich und natürlich für alle Betroffenen, man dachte gar nicht daran, sie zu erwähnen. Gesagt haben sie dies durch ihren einsamen, auf das Wort Gottes konzentrierten, nüchternen, betenden, geschwisterlichen, ohne strenge Strukturen auskommenden, aufs Wesentliche schauenden Lebensstil.
Die Entfaltung der "elianischen Thematik" sollte zwar in Europa stattfinden, doch wurde sie nicht erst in Europa erfunden. Erst die Umstände führten zu einer immer stärkeren, oftmals legendenhaften Thematisierung, die jedoch immer als Treue zu einer ursprünglichen, charismatischen Gegebenheit der Gruppe verstanden wurde. Ein wichtiger Text in bezug auf die Ausarbeitung der Gestalt Elijas, sozusagen die "Matrize" für alles, was danach kam, ist die Rubrica prima der Konstitutionen von London (1281, vermutlich aber noch früher). Diese schlägt vor, man möge den jungen Leuten, die fragen, "a quo et quomodo ordo noster sumpsit exordium" ("durch wen und auf welche Weise unser Orden seinen Anfang nahm"), folgendermaßen antworten:
"Zum Zeugnis für die Wahrheit erklären wir, daß seit der Zeit der Propheten Elija und Elischa, die gottgefällig auf dem Berg Karmel lebten, die heiligen Väter des Alten und Neuen Bundes, welche die Kontemplation der himmlischen Dinge in der Einsamkeit dieses heiligen Gebirgszugs versammelt hatte, bei der Quelle des Elija ein lobenswertes Leben führten, indem sie dort ununterbrochen und erfolgreich in heiliger Buße verharrten. Ihre Nachfolger vereinte Albert, der Patriarch von Jerusalem, zu Zeiten Innozenz III. "in unum collegium" und schrieb ihnen eine Regel."
Wie man sieht, erscheint hier bereits die Vorstellung eines kontinuierlich seit der Präsenz der beiden Propheten auf dem Berg Karmel von ihren Nachahmern im Alten und Neuen Testament fortgesetzten Lebens der Kontemplation und Buße. In den späteren Ausgaben wird dieser Text um das marianische Gedenken und um so manche geschichtliche Einzelheit über die Approbation der Regel erweitert.
Das darauffolgende 14. Jahrhundert erlebt die Abfassung zahlreicher Werke, in denen immer mehr pseudogeschichtliche, im allgemeinen aber der patristischen und monastischen Tradition entnommene Einzelheiten angehäuft werden, mit denen die ununterbrochene Nachfolge des Propheten Elija bis zur Menschwerdung Gottes und von dort bis zur Regel und bis ins gegenwärtige Jahrhundert bewiesen werden soll. Fortlaufend werden neue Informationen, Einzelheiten, wiederentdeckte Details aus bestimmten Traditionen und legendären Erzählungen angesammelt, um die "Sache" der Karmeliten zu untermauern und zu stützen, nämlich ihre Abstammung von Elija, ihre Weihe an Maria (insbesondere wegen ihrer Jungfräulichkeit), sogar die Form ihres Gewandes (ein gestreifter Mantel wegen der vom feurigen Wagen des Elija hinterlassenen Brandspuren), ihre Spiritualität (Gebet in der Einsamkeit und Chorgebet, Verzicht, Verlassen der Klausur aus missionarischen Gründen usw.), die Bekehrung zum Christentum (Zwei Karmeleinsiedler hätten beim Pfingstereignis in Jerusalem geweilt). Dieselbe Tendenz zur großzügigen und sogar phantastischen Ausschmückung hält sich bis ins 15. Jahrhundert. Im großen und ganzen muß man allerdings anerkennen, daß "diese üppige Ausschmückung der elianischen Haggada... immer auf den Texten der Kirchenväter und der damals modernen kirchlichen Schriftsteller wie auch generell auf den in der Patristik und im mittelalterlichen Mönchtum immer wiederkehrenden Aussagen über das Ordensleben fußte" (E. Boaga).
Zusammenfassend dürfen wir sagen, daß in dieser Literatur - wenn wir einmal von der typischen Sprache der Zeit und von einer gewissen apologetischen, selbstgefälligen Tendenz absehen - der Prophet Elija (die Bezeichnung "Prophet" fehlt nie) als ein Mann der Kontemplation dargestellt wird, der nach dem "Antlitz Gottes" sucht und ihm mit "puritas cordis" (reinem Herzen) dienen möchte. Aus diesem Grund ist die Einsamkeit kein zentraler Wert, sondern sie dient der Kontemplation. An zweiter Stelle wird Elija als ein Mensch dargestellt, der sich engagiert, Gott vor den Menschen zu dienen, doch ist dies eine natürliche Folge der Kontemplation, wie es heute noch im Meßbuch heißt: "...Du hast dem Elija gewährt, in deiner Gegenwart zu leben und sich vor Eifer für deine Verherrlichung zu verzehren" (Oration des Festes).
Die reifste und berühmteste Synthese wird die als Institutio primorum monachorum bezeichnete Sammlung von zehn Büchern liefern. In dieser von dem Katalanen Felipe Ribot in einem nicht näher zu ermittelnden Jahr zwischen 1379 und 1391 zusammengestellten Sammlung finden wir die ausführlichste und reifste Ausarbeitung der elianischen Thematik gemäß der Karmeltradition. Es ist ein Handbuch der "Ordensgeschichte", daher will es Beweise liefern für die ununterbrochene elianische "Abstammung" vom Propheten Elija bis zu der Gemeinschaft, die von Albert die Regel bekam. Zugleich ist es aber eine systematische Abhandlung über "Spiritualität" und bildete jahrhundertelang die Inspirationsquelle für die "elianische Erinnerung" des Ordens. Laßt uns eine berühmte Stelle aus diesem Text zitieren, die bis heute von grundlegender Bedeutung ist. Sie stellt uns den Weg der Läuterung und der Erleuchtung, aber auch den Weg der Gotteinung und der eingegossenen Kontemplation als Ideal und Ziel vor Augen, zu dem wir "als unverdientes Geschenk Gottes" gelangen sollen. Wohl nie hat jemand so ausdrücklich erklärt, daß die Karmelberufung eine Berufung zum mystischen Leben ist.
Elija"Der Prophet Gottes Elija wird als Gründer des Mönchtums angesehen. Mit ihm nimmt diese uralte Institution ihren Anfang. Er war ja der erste, der aus dem Verlangen nach höherer Vollkommenheit weit weg von den Städten gegangen ist, um sich ganz der Kontemplation des Göttlichen hinzugeben. Er hat sich von allem Irdischen und Weltlichen losgemacht. Vom Heiligen Geist geführt und gedrängt, hat er begonnen, ein gottgeweihtes Propheten- und Einsiedlerleben zu führen.
Gott ist ihm erschienen mit dem Auftrag, den Umgang mit den Menschen zu fliehen, sich vor den Leuten in der Wüste zu verbergen und in der Einsamkeit als Mönch zu leben in der Weise, in der Er es ihm zeigen werde. Die Heilige Schrift gibt davon Zeugnis. Im Buch der Könige lesen wir: "Das Wort des Herrn erging an ihn also: Geh fort von hier, wende dich gegen Osten und verbirg dich am Bach Kerith, der östlich vom Jordan fließt. Aus dem Bach sollst du trinken und den Raben gebiete ich, daß sie dich dort ernähren" (1 Kön 17,2-4).
Der Heilige Geist hat Elija angetrieben, dieses Gebot zu erfüllen und hat ihm die Kraft verliehen, die darin enthaltenen Verheißungen zu erreichen. Dieses Gebot und diese Verheißungen müssen wir nicht bloß im geschichtlichen, sondern vielmehr im mystischen Sinn verstehen und Wort für Wort erwägen, denn in ihnen ist die Unterweisung enthalten, wie man zur prophetischen Vollkommenheit und zum Ziel des Einsiedlerlebens gelangen kann.
Dieses Leben hat ein zweifaches Ziel: Das eine können wir - mit Hilfe der göttlichen Gnade - durch eigene Anstrengung und durch die Übung der Tugenden erreichen. Es besteht darin, Gott ein reines und heiliges Herz anzubieten, das frei ist von jeder Sünde. Dieses Ziel erreichen wir, wenn wir vollkommen sind und verborgen in Kerith, das ist in der Liebe, von der der Weise sagt. "Die Liebe deckt alle Verfehlungen zu" (Spr 10,12). Zu diesem Ziel wollte Gott Elija führen, darum hat Er zu ihm gesagt: "Verbirg dich am Bach Kerith."
Das andere Ziel dieser Lebensweise wird uns als unverdientes Geschenk von Gott gegeben. Es besteht darin, daß wir nicht erst nach dem Tod, sondern schon in diesem sterblichen Leben ein wenig die Kraft der göttlichen Gegenwart und die Freude der himmlischen Herrlichkeit in unserem Herzen verkosten und in unserem Geist erfahren dürfen. Das bedeutet, trinken aus dem Strom der göttlichen Wonne. Dieses Ziel hat Gott Elija versprochen, als Er sagte: "Aus dem Bach sollst du trinken".
Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, muß der Mönch das prophetische Einsiedlerleben umfangen, wie der Prophet bezeugt: "Im öden, unwegsamen und dürren Land, im heiligen Zelt erscheine ich vor Dir, o Gott, damit ich Deine Kraft und Deine Herrlichkeit schaue" (Ps 63,2-3).
Elija hat es vorgezogen, im öden, unwegsamen Land ohne Wasser zu verweilen, um so im heiligen Zelt, d. h. mit reinem, von Sünde freiem Herzen vor Gott zu erscheinen. Dadurch weist er hin auf das erste Ziel dieses einsamen Lebens, das er erwählt hat: Gott ein heiliges, d.h. von jeder Sünde freies Herz anzubieten. Er fügt aber noch hinzu: "Damit ich Deine Kraft und Herrlichkeit schaue". So zeigt er deutlich das genannte zweite Ziel: schon in diesem Leben in seinem Herzen etwas zu erfahren oder mystisch zu schauen von der Kraft göttlicher Gegenwart, und die Freude himmlischer Herrlichkeit zu verkosten.
Zum ersten Ziel der Reinheit des Herzens gelangt man - mit Hilfe der Gnade - durch eigene Anstrengung und durch die Übung der Tugenden. Durch die Reinheit des Herzens und durch die Vollkommenheit der Liebe werden wir zum zweiten Ziel geführt: zu einer lebendigen Erkenntnis göttlicher Kraft und himmlischer Herrlichkeit, wie der Herr sagt: "Wer mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren" (Joh 14,21."
Dieses Werk galt jahrhundertelang als "Handbuch für die Ausbildung" zum geistlichen Leben im Karmel. Auch Teresa von Jesus und Johannes vom Kreuz kannten und lasen es. Vor allem aber gibt es in bezug auf die elianische Thematik einen wichtigen Punkt, den man nicht vergessen darf: Im Zentrum der großen Aufmerksamkeit steht nicht die Frage nach dem Gründer (wie so viele aus mangelhafter Kenntnis der Geschichte meinen), sondern die Verbindung mit dem Beispiel Elijas und die Verwirklichung des Prophetenwortes in Christus. Das Ganze soll nur dem Beweis dienen, daß Elija sein eigenes Leben und das seiner Schüler symbolisch auf den künftigen "Messias" ausgerichtet und die "Karmeliten" die Zeichen der Vollendung des Heils erwartet, sie dann auch sofort "erkannt" und sich ihm mit Begeisterung angeschlossen hätten. Folglich geht es bei der prophetischen Dimension um eine Bestätigung der Christozentrik.
6. "SUB TUTELA MATRIS": Maria als fruchtbarer Mutterschoß und reines Herz
MairaDas zweite grundlegende Element, das es zu entfalten gilt, ist die Verehrung der Jungfrau Maria. Auch von dieser so wichtigen Andacht finden wir in der Regel keine ausdrücklichen Spuren, sondern nur einen "impliziten Hinweis" in der Anweisung, "einen Gebetsraum inmitten der Zellen" zu errichten. Aus einem Werk mit der Überschrift Les pélerinages por aler en Jherosalem (aus dem Jahr 1220) wissen wir mit Sicherheit, daß dort zu dem Zeitpunkt bereits eine "petite yglisse de Notre-Dame" (kleine Marienkirche) existierte. Zehn Jahre später ist im anonymen Werk La Citèz de Hierusalem die Rede von "einem wunderschönen, herrlichen Ort, an dem die lateinischen Eremiten leben, die Karmelbrüder heißen", in deren Mitte es "eine schöne kleine Marienkirche" gebe.
In diesem Fall müssen wir die Mentalität des Mittelalters beachten: Wenn man eine Kirche einem bestimmten Heiligen oder Glaubensgeheimnis "geweiht" hatte, bedeutete das für die Menschen jener Zeit nicht nur, daß man diesem Heiligen oder diesem Glaubensgeheimnis die Ehre erweisen, sondern auch, daß man sich den "Schutz" dieses Heiligen sichern sollte. Es war das Eingeständnis, daß ein enges gegenseitiges Bündnis bestand: Der Gläubige verpflichtete sich zum "obsequium" (zur Gefolgschaft) und zum frommen, ungeteilten "servitium" (Dienst) für den Patron, im Gegenzug erhielt er dafür Hilfe, "Schutz", Gnade, Wohltaten ("de solo Salvatore speretis salutem" - "Erhofft vom Heiland allein das Heil" - Kap. 14).
Genau dies ist auf dem Berg Karmel der Fall: Das Kirchenpatronat wird zur Quelle einer ausgeprägten geistlichen Haltung. Die Jungfrau Maria wird zur "Patronin" der Gruppe; während die Urgruppe sich ihr durch ihre Lebensform verbunden weiß, wird man schließlich zu der Überzeugung gelangen, "gegründet zu sein, um ihr dienen und sie zu verehren" (Brief des Generals Pierre de Millau, 1282). In einer Bulle des Jahres 1252 wird der Name des Ordens zum ersten Mal mit dem Mariens verknüpft: "Heremitae fratres ordinis sanctae Mariae de Monte Carmeli" (Bulle Papst Innozenz IV.). Mehr als der Ordensname, der die offizielle Bezeichnung geworden ist, interessiert uns hier aber die davon ausgehende Inspirationskraft. Der Grund dafür ist die Kapelle inmitten der Zellen. Dieser Raum mußte eigens gebaut werden und zwar mußte er so entworfen werden, daß er sich "wo es leicht geschehen kann, inmitten der Zellen" (Kap.10) befinde; vor allem sollte er der Ort werden, an dem man täglich ("mane per singulas dies" - "jeden Tag in der Frühe") mit allen Brüdern um den Herrn zusammenkam. Traditionell wurde dort auch das für den Sonntag vorgesehene Kapitel (Kap. 11) abgehalten. Es wurde im Anschluß an die Messe gehalten, womit eine enge, bewußte Verbindung mit der Eucharistiefeier ausgedrückt wurde.
Es ist nicht schwer, die symbolische Bedeutung dieser Mitte zu verstehen: In dieser Bau- und Anpassungsarbeit, in diesem täglichen Kommen und Gehen, in diesem zentralen Schoß wird jeder tagtäglich von den miteinander geteilten, gefeierten, erlebten Heilsgeheimnissen zu neuem Heil und neuer Geschwisterlichkeit geboren. Doch hat dieser Schoß einen Namen, eine Patronin, "Unsere Liebe Frau", die Mutter des Lammes ohne Makel, das Tag für Tag diejenigen aufnimmt, die dort "zusammen-kommen"; sie erlebt zusammen mit ihnen die Heilsgeheimnisse. Sie wird als die Patronin des Ortes (Domina loci) verehrt, zugleich wird sie aber zum Vorbild und zur Führerin für einen Lebensentwurf, der offen bleibt für die Lebensrhythmen der Zeit. Die Tag für Tag erlebte gegenseitige Treue wird zur Gewißheit einer Identität, zum "neuen Namen", der die Brüder identifiziert und an dem man sie erkennt, sie wird zur Quelle einer neuen Deutung der eigenen Identität: In den Fußstapfen der Mutter, mit den Gefühlen der Mutter, mit der inneren Einstellung der Mutter in der Nachfolge Christi vorangehen, das war das Ergebnis. Es war eine lebendige Gesellschaft im Dienst für den Herrn auf dem Weg des Glaubens.
Eben diese Horizonte werden im Laufe einiger Jahrhunderte das Aufkommen der verschiedenen "marianischen" Titel rechtfertigen, denen man in der Geschichte des Karmel begegnet, von der patrona (Patronin) zur domina loci (Ortsherrin), von der allerreinsten Jungfrau zur Schwester, von der Mutter des Herrn zur mater et decor Carmeli, von der flos Carmeli zur stella maris. Im Jahr 1281 wird der Name der "seligsten Jungfrau Maria vom Berge Karmel" in die Profeßformel eingefügt. Im darauffolgenden Jahrhundert werden immer mehr apologetische Werke zur Verteidigung des "marianischen" Titels des Ordens verfaßt und vor allem blühen die Legenden über die besondere Gunst und die Verheißungen Mariens zugunsten des Ordens (insbesondere die mit dem Skapulier verbundenen Legenden).
Hinter einem jeden dieser Titel und Zeugnisse stecken Sprachspiele und Sensibilitäten der jeweiligen Kultur, des damaligen Kontextes und der damaligen Zeit. Doch handelt es sich mit Sicherheit um ein weitverzweigtes, reiches Erbe religiösen Suchens und authentischen Fragens nach der eigenen Berufung; diese weite Vielfalt müssen wir uns erhalten und zurückgewinnen und sie in den neuen Reichtum der Theologie und der marianischen Spiritualität inkulturieren.
Im Volk gab es seit der ersten Zeit der Verbreitung in Europa "Bruderschaften Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel", die Ausdruck der Sympathie des Volkes für diese Brüder waren. Erst viel später (ab dem 16. Jh.) liegt die Betonung auf der "Muttergottes vom Skapulier". Letzterer Titel gab Anlaß zu einem breiten Strom der Volksfrömmigkeit; er war das Vehikel, durch das die Karmeliten mehr als mit anderen Andachtsformen zur Volksfrömmigkeit beigetragen und die Heilserwartung der einfachen kleinen Leute angefacht haben. Doch reicht dieser Titel allein zweifellos nicht aus, um die großen Horizonte der Marienfrömmigkeit des Ordens in den ersten drei Jahrhunderten zu verstehen und neu aufzugreifen, ja vielleicht verhindert er das sogar. Diese können wir folgendermaßen zusammenfassen:
Dank ihrer Gegenwart "inmitten der Zellen", am Ort des eucharistischen Mahles ist Maria Vorbild und Führerin für die Bruderschaft. Sie verkörpert die absolute Verfügbarkeit für das Wort Gottes, weil sie Dienstmagd, allerreinste, schweigende Jungfrau und fruchtbarer Schoß für den menschgewordenen Gott ist. In ihrer Suche nach dem Angesicht Gottes und im Ausschau-Halten nach seinen Gaben war sie ihnen eine Schwester "mit reinem Herzen", die ganz in der Betrachtung der Heilsereignisse aufging. Sie lehrt sie, Gott wegen seiner Barmherzigkeit zu loben und die Geschichte nach den Kriterien Gottes zu beurteilen. Sie ist ihnen Patronin und Mutter, voller Sorge und Aufmerksamkeit für ihre Söhne und Brüder, die sie durch ihr Ordensgewand und ihren Namen, in liturgischen Titeln und mit einer symbolischen Deutung der einschlägigen Schriftstellen ehren.
7. EIN WEG DER INKULTURATION: Auf die jeweilige Zeit und ihre Herausforderungen eingehen
Ich möchte wenigstens kurz auf die weiteren fruchtbaren Entwicklungen in den vier Jahrhunderten zwischen unseren Anfängen und der großen Erneuerungsarbeit Teresas von Jesus hinweisen. Im allgemeinen wird diese ganze lange Periode (von immerhin vier Jahrhunderten!) als eine Zeit des Verfalls ohne Glanz oder Würde dargestellt. Ich lasse jetzt die verschiedenen Reformversuche beiseite, unter denen die bis zur französischen Revolution andauernde "Reform von Mantua" und später die französische sog. "Tourainer Reform" mit ihrer reichen Mystik herausragen. Ich möchte mich auf zwei "Faktoren" beschränken, wobei ich weniger versuchen werde, eine Reihe von Tatsachen als vielmehr die darin aufscheinende Dynamik herauszustellen.
a) Apostolat: "Einen Status erlangen, in dem wir uns freuen dürfen, mit der Hilfe Gottes uns selbst und dem Nächsten nützlich zu sein" (Bulle Paganorum incursu, 1246): Mit dieser Begründung baten sie den Papst nach ihrer Übersiedlung nach Europa, auch außerhalb ihres Ursprungsortes anerkannt und akzeptiert zu werden. Tatsächlich rückt die endgültige Approbation der Regel - mit ihren Zusätzen - die "fratres heremitae" in die Nähe des Lebensstils der "Mendikanten"; während zwar das kontemplative Leben in der Einsamkeit gültig und zentral bleibt, nehmen ab diesem Augenblick auch die Seelsorgsaktivitäten in der eigenen Kirche und später auch in Wanderpredigten zu. Erinnern wir daran, daß es sich nicht nur um eine Phase reinen Verfalls bzw. reiner Verarmung handelt; das beweisen die Heiligen, deren Glanz in dieser Zeit aufleuchtet. An einige von ihnen möchte ich erinnern.
Für die Seelsorge in der Einsamkeit könnte der hl. Albert von Sizilien (+1307) stehen, der erste Heilige des Ordens, um dessen Gestalt sich viele Volkslegenden ranken. Gewöhnlich wird er mit einem Buch in der Hand (Symbol der biblischen Weisheit) dargestellt und als Schutzheiliger gegen Fieber, Pest, Erdbeben und diabolische Besessenheit angerufen. Die ordentliche, systematische Seelsorge vertritt der heilige Bischof Andreas Corsini (+1374), der sich selbst als "Vater und Helfer der Armen" bezeichnete. Er war auch eine herausragende Gestalt als Prediger, wachsamer Hüter der Heiligkeit der Priester und Friedensstifter zwischen den Städten der Toskana. Als Beispiel außerordentlichen Einsatzes für die Gemeinschaft der Kirche und die ökumenische Versöhnung insbesondere mit dem Osten können wir schließlich auf Petrus Thomas (+1365) hinweisen, dem die Päpste mehrfach sehr wichtige Missionen anvertraut haben.
b) Dialog mit der Kultur: Manchmal hat man den Eindruck, als habe unser Orden sich nie groß um die Kultur gekümmert; sicher konnte er sich in diesem Bereich nicht mit den großen Orden messen. Doch wurde ihr sehr wohl eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere nachdem man sich systematisch in der Seelsorge zu engagieren begann. Ich möchte einige Tatsachen erwähnen, die zu denken geben. Um einen problemloseren Zugang zu den Universitätszentren und den Studien zu ermöglichen, wurde auf dem Kapitel von Montpellier (1287) beschlossen, das Gewand zu vereinfachen und die braun-weißen "Streifen" vom Mantel zu entfernen. (Denken Sie nur an die Bedeutung des Ordensgewandes im Mittelalter!) Mehrere Jahrhunderte lang war es in den europäischen Universitäten ein Vorrecht der Karmeliten, den Lehrstuhl der Exegese der "heiligen Schrift" anvertraut zu bekommen; das weist auf eine gewisse Vertrautheit mit dem Wort Gottes und eine theologische Orientierung hin, die weniger spekulativ als vielmehr auf Lebensweisheit ausgerichtet war. Unter den Bibelspezialisten soll an den bolognesischen Exegeten Michele Aiguani (+1400) erinnert werden, der den ausführlichsten Kommentar zu den Psalmen in drei dicken Bänden geschrieben hat.
Die Aufmerksamkeit für die Erfordernisse weiblicher Frömmigkeit kommt in unserem Orden erst spät auf. In der Tat entstanden die "Nonnen" offiziell erst 1452 (unter dem General Soreth, und zwar durch die Bulle Cum nulla, 1452). Doch wird diese Verzögerung durch eine Tradition der Heiligkeit und "weiblichen" mystischen Weisheit aufgewogen, die wohl kaum ihresgleichen in der Kirche hat. Das 15. Jahrhundert war ziemlich reich an kulturellen Zeugnissen: Denken wir an die bedeutende Rolle des Karmel von Florenz mit dem Freskenzyklus von Masaccio in der Cappella Brancacci (alles biblische Episoden!); wichtig sind ferner die elf Chorbücher mit Miniaturen und die Bilderzyklen des Fra Filippo Lippi. Eine wichtige Gestalt der Literaturgeschichte war der als Baptista Mantuanus bekannte selige Battista Spagnoli, der viele poetische Werke verfaßte, die weite Verbreitung im ganzen Europa der Renaissancezeit fanden, und dessen christlichen Humanismus auch ein ganz Großer wie Erasmus bewunderte.
c) Und die Geschichte ging in kreativer Treue weiter: Dies haben wir alles angedeutet, damit man begreift, daß die große kreative Blütezeit des 16. Jahrhunderts - in charismatischer und literarischer Hinsicht und was Heiligkeit betrifft - nicht aus dem Nichts hereingebrochen ist. Sie war gewissermaßen schon länger vorbereitet und genährt durch viele Bächlein von Reformen und Heiligkeitsströmen, durch neue Sprachformen und neue kirchliche Aufbrüche, die dann später zu dem großen Strom der "karmelitanischen Spiritualität" wurden, ohne daß dabei jedoch die Vorgeschichte unnütz und überholt wäre; vielmehr wird sie noch notwendiger, damit wir die kontinuierliche Treue und die Kreativität in der Treue verstehen können.
So wie wir immer auch den Eindruck haben, daß die Zeit, die uns am nächsten ist, nämlich das Ende des 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine größere Originalität und einen größeren Reichtum an neuen Paradigmen aufweist. Sie wurde von den beiden Jahrhunderten genährt, in denen das Erbe kopiert und die Vitalität unter schwierigen Bedingungen leidvoll bewahrt wurde. Am Ende "explodierte" dann all dies zur jüngsten Blütezeit der kreativen Treue, deren Vertreter Therese, Elisabeth, Titus Brandsma und Edith Stein sind. Meiner Meinung nach hat man das wohl noch nicht ganz verstanden und entsprechend gedeutet. Und ich meine, daß diese Zeit auch noch nicht ganz abgeschlossen ist, sondern daß manche Themen noch offen sind für eine kreative, für die Kirche fruchtbare Weiterentwicklung. Aber darüber können ja wir miteinander diskutieren...
Das Referat wurde gehalten beim europäischen Studententreffen OCD, das vom 30.Juni bis zum 07.Juli 1998 in Wadowice (Polen) stattfand.